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Kanton
08.05.2020
08.05.2020 08:16 Uhr

So ist es mit 55 Tagen Hausarrest!

Frankreichs Ministerpräsident Édouard Philipp und links die Karte eines in zwei Zonen aufgeteilten Frankreichs.
Frankreichs Ministerpräsident Édouard Philipp und links die Karte eines in zwei Zonen aufgeteilten Frankreichs. Bild: Linth24 / Mario Aldrovandi
Am Montag endet in Frankreich die härteste Phase der Covid-Krise. Wie die letzten zwei Monate Alltag waren und was ändert, beschreibt Mario Aldrovandi aus Südfrankreich.

In Frankreich sind zuviele Menschen wegen Covid-19 gestorben: Über 25'000, so viele wie in Rapperswil-Jona leben. Gleichzeitig hat Frankreich seit Mitte März eine der härtesten Ausgangssperren. Wie passt das zusammen?

Grund eins: Als die Regierung den Hausarrest, die Schliessung der Schulen und die Telearbeit befahl, packten viele Städter ihre Koffer. Sie flüchteten in überfüllten Zügen zu ihrem Zweitwohnsitz aufs Land. So wurde der Virus in ganz Frankreich verteilt.

Grund zwei: Das Gesundheitssystem wurde noch härter kaputt gespart, als in der Schweiz. Zudem hatte man mehrere hundert Millionen alte Masken verbrannt und keinen Ersatz beschafft.

Als die Welle kam, gab es zu wenig Geräte, Schutzmaterial und qualifiziertes Personal in Spitälern und Altersheimen. 

Aus der Not eine Tugend machen. Bilder aus Frankreich «Masken aus Stoff» auf Instagram: #masquetissu Bild: Linth24 / Web /freie Nutzung

900'000 Busszettel

Gemeinhin gelten die Gallier als unzufrieden und widerspenstig. Zurzeit hört man öfters Flüche wie «J'en ai marre». Dieses «Schnauze voll» hat man auch, weil für jede Bewegung ausserhalb des Hauses einen Passierschein nötig ist.

Trotzdem: Die Ausgangssperre wurde eingehalten. Mit überzeugend war sicher die 135 Euro-Strafe bei einem Verstoss bis zu Gefängnis bei mehreren Verstössen. Verteilt wurden über 900'000 Bussen. Auch in meiner kleinen Gemeinde war die Gendarmerie erstaunlich präsent.

Normalbild beim Einkauf: Handschuhe und Gesichtsmaske. Bild: Linth24 / Mario Aldrovandi

Mehrheit trägt Masken

Eine Maskenpflicht gibt es erst ab nächster Woche in Bus und Zug. Doch schon heute schützen sich 60%, sobald sie das Haus verlassen.

Im Super-U oder Intermarché - also den Coop und Migros von Frankreich - trägt fast jeder Kunde eine Maske. Viele selbst genäht. Kassierinnen, Metzger oder Fischverkäufer sind durch Plexiglasscheiben und Masken geschützt, einige tragen eine Art Helm. Den ganzen Tag.

Diese Woche gibt es zwei Masken für Private im Briefkasten. Gratis. Verteilt von der Gemeinde.

Montpellier ist die grösste Stadt in Südfrankreich. Der Flughafen ist seit Anfang April stillgelegt. Bild: Linth24 / Mario Aldrovandi

55 Tage Hausarrest

Noch bis am Montag steht das öffentliche Leben still. Busse und Züge fahren kaum. 200'000 Restaurant und alle Bars sind geschlossen, Pétanque oder Fussball spielen verboten. Pro Tag ist maximal eine Stunde Spaziergang oder Joggen erlaubt, nicht weiter als ein Kilometer von zuhause weg.

Einkaufen dürfen Einzelpersonen, nicht Paare. Offen sind Lebensmittelläden und Handwerkershops. In Frankreich gehört «bricoller», «basteln», zum Lebensinhalt. Viele Häuser, Fensterrahmen, Türen erhielten seit März einen neuen Anstrich.

Gemäss Umfragen haben die Franzosen seit März 2,5 Kilogramm zugenommen.

Autobahn A9 beim Nîmes: Eine der Hauptverbindungen zwischen Italien und Spanien - leergefegt. Bild: Linth24 / Mario Aldrovandi

Erste Erleichterungen ab Montag

Am 11. Mai ist der Hausarrest zu Ende. Erlaubt ist neu ein Bewegungsradius von 100 Kilometer, ohne Passierschein. Wer weiter will, braucht eine Behörden-Vorladung oder als Firma eine Sonderbewilligung. Die Grenzen nach Spanien, Italien, Deutschland und der Schweiz bleiben bis mindestens 15. Juni geschlossen.

Viele Läden werden geöffnet, nicht aber die Gastronomie, die Strände oder Kinos. Dies gibt es frühestens Ende Mai. Die Tourismus-Saison steht auf der Kippe.

Pétanque spielen unter den Platanen. Heute noch verboten, ab 11. Mai wieder möglich. Bild: Linth24 / Mario Aldrovandi

Regierung teilt Frankreich

Die Regierung von Emanuel Macron will Leben und Wirtschaft wieder in Gang bringen. Sie setzt auf viel Geld und Regionalisierung, das heisst auf die 101 Departemente, eine Art Kantone. Diese Regionalisierung ist neu im zentralistischen Staat, in dem «Paris» alles entscheidet.

Für jedes Departement wurde die Seuchen-Situation bewertet und was die Spitäler leisten können. Das Ergebnis: Entlang der Schweiz bis in den Norden, inklusive Paris, ist Frankreich eine kritische rote Zone. Dort wird die Überwachung erhöht, teilweise werden Bahnhöfe geschlossen. Weitere Verschärfungen sind jederzeit möglich. Die Anzahl Tests wird massiv erhöht.

32 Departemente von total 94 gehören in Frankreich zur roten Zone und werden stärker überwacht. Bild: Linth24 / Mario Aldrovandi

Schule für die Armen

Die Primarschulen öffnen wieder, besucht auf freiwilliger Basis. So soll die Bildung jenen Familien zugänglich werden, die zu wenig Computer oder Internet für Fernunterricht haben. Etwa 15% der Eltern begrüssen das.

Die Mehrheit bleibt aus Angst vor dem Virus zuhause oder weil sie genug Mittel hat. Wie die Lehrer den Präsenz- und Fernunterricht unter einen Hut bringen können, ist unklar.

Täglich werden auf allen TV-Kanälen viele Zuschauerfragen gestellt. Auch Experten haben oft keine Antwort. Das Vertrauen in die Regierung liegt bei 40%, weit entfernt von den 81% in der Schweiz.

Schild an meiner Strasse, welches den Menschen an der «Front» dankt: . Danke für Infirmières (Krankenschwester), Facteurs (Pöstler), Pompiers (Feuerwehrleute), Eboueurs (Müllmänner), Docteurs, Boulanger (Bäcker), Caissiers (Kassiererinnen), Police (Polzisten). Bild: Linth24 / Mario Aldrovandi

Täglicher Applaus

Seit Monaten lebt die Bevölkerung Solidarität und Dankbarkeit. Täglich treten Franzosen um 20 Uhr auf die Strassen und Balkone und applaudieren oder machen mit Pfeifen Lärm.

Ihr Dank gilt den «Helden der ersten und zweiten Front». Das sind die Pflegerinnen, Ärzte, Müllmänner, Transporteure, Kassierinnen, Bäcker und ja, auch Polizisten.

Mario Aldrovandi, Aigues-Mortes