Der amerikanische Komponist und Grammy-Gewinner Tobias Picker hat gemeinsam mit dem Librettisten Aryeh Lev Stollman (ausgezeichnet mit einem Lambda Literary Award) eigens für diesen Anlass die weltweit erste grosse Oper für und über eine Person mit trans Hintergrund geschrieben. Die Titelrolle übernimmt die gefeierte Heldenbaritonistin Lucia Lucas.
Queere Oper
Das Auftragswerk von Konzert und Theater St.Gallen erzählt die Geschichte der titelgebenden Malerin Lili Elbe, die in den 1930er Jahren die ersten geschlechtsangleichenden Operationen vornehmen liess. Vor allem aber ist Lili Elbe die Geschichte einer alle Hindernisse überwindenden Liebe zwischen der Titelheldin und ihrer Frau Gerda Wegener, ebenfalls eine illustre Künstlerin, und reiht sich damit in die grossen Werke des Opernrepertoires ein. Gleichzeitig erlaubt die Oper einen Einblick in das Leben einer trans Frau, ihr Coming-out und ihre Transition zu einer Zeit, in der Geschlechtsangleichungen noch völliges Neuland waren.
Zu ihrer Lebzeit war Lili Elbe (1882–1931) eine international bekannte Persönlichkeit. Im Gegensatz zum preisgekrönten Film The Danish Girl (2015) basiert die Oper nicht auf der gleichnamigen Romanvorlage, sondern auf historischen Quellen, unter anderem Lili Elbes vielbeachteten Lebensaufzeichnungen.
Die Uraufführung wird spartenübergreifend von Krystian Lada inszeniert, der in St.Gallen bereits Florencia en el Amazonas und Messa da Requiem auf die Bühne brachte. Zum Kreativteam gehören denn auch die Leiter zweier Sparten: Modestas Pitrenas dirigiert Tobias Pickers Partitur, seine insgesamt siebte Oper. Frank Fannar Pedersen gestaltet die Choreografie. Überhaupt spielt die Tanzkompanie St.Gallen eine besondere Rolle, indem der Tanz in Lili Elbe zum gleichberechtigten theatralen Medium wird.
Die Sängerin der Titelrolle, Lucia Lucas, feierte bereits grosse Erfolge als Heldenbaritonistin an Häusern wie der New Yorker Metropolitan Opera, der Lyric Opera Chicago oder der English National Opera. Zudem wirkt sie an der Produktion auch als Dramaturgin der Autoren mit.
Zeitgenössische Diskurse für ein modernes Haus
Die Geschichte von Lili Elbe als Eröffnungsproduktion aufzunehmen, bot sich aus verschiedenen Gründen an. Zum einen wollten der in die Zukunft weisenden Architektur des Hauses Diskurse am Puls der Zeit gegenübergestellt werden.
Dass dabei gerade Geschlechterrollen verhandelt werden, ergibt sich für Jan Henric Bogen, der mit dem Beginn der Spielzeit 2023/24 die künstlerische Gesamtleitung von Konzert und Theater St.Gallen übernommen hat, allein schon aus der Vergangenheit des Musiktheaters: «Die Geschichte der Oper ist auch eine Geschichte von Genderidentitäten. Denken wir an Kastraten oder Hosenrollen, zeigt sich, dass auf der Opernbühne immer wieder mit Geschlechterrollen gespielt wurde.»
Zum anderen passt die Geschichte der Pionierin Lili Elbe auch inhaltlich gut zur Neueröffnung. Und nicht zuletzt steht Lili Elbe auch für eine ästhetische Kontinuität, indem der Faden spartenübergreifender Produktionen wie Verdis Requiem aus der vergangenen Spielzeit wiederaufgenommen wird.
Festakt am 21. Oktober 2023
Das von Claude Paillard konzipierte Theater ist ein «Werk architektonischer Spitzenklasse» und «Referenz für Kulturbauten» (Caspar Schärer im St. Galler Tagblatt, 27. Januar 2018). Nach rund dreijähriger Sanierung und Erweiterung wird es am Abend des 21. Oktober 2023 symbolisch wieder dem Theaterbetrieb übergeben.
Der Festakt mit Reden von Vertretern der Kantons- und Stadtregierung sowie des Theaterdirektors Jan Henric Bogen wird durch ein künstlerisches Programm untermalt. So spielt das Sinfonieorchester die Ouvertüren von Lili Elbe und Fidelio und lässt dadurch einen Kreis schliessen: Mit Beethovens Oper wurde der Paillard-Bau 1968 eröffnet.
Darüber hinaus werden Highlights der Spielzeit 2023/24 zu sehen und zu hören sein, z.B. Ausschnitte aus dem Schauspielmusical Black Rider oder der Komödie Extrawurst. Die Tanzkompanie wird Teile der Choreografie Inger/Shechter präsentieren.
Tag der offenen Tür und Opernweltpremiere
Am darauffolgenden Sonntag, 22. Oktober 2023, sind alle herzlich eingeladen, die Wiedereröffnung des Grossen Hauses zu feiern und am Tag der offenen Tür von 10 bis 15 Uhr die renovierten und neuen Räumlichkeiten des Paillard-Baus zu erkunden. Um 19 Uhr ist es dann so weit: Zum ersten Mal seit Mai 2020 hebt sich für die Premiere von Lili Elbe der Theatervorhang.