Der Liedermacher Arne Kopfermann hat bei einem Autounfall im Jahr 2014 seine kleine Tochter verloren. Die Trauer um Sara verarbeitet der Musiker in nachdenklichen Liedern – und einem Buch. Am Sonntag, 7. November wird er in der Kirche im Prisma in Rapperswil über dieses traumatische Erlebnis berichten.
Linth24 hat sich vorgängig mit Arne Kopfermann unterhalten. Es entstand ein Interview, das unter die Haut geht.
Herr Kopfermann, es sind seit dem Unfall sieben Jahre vergangen. Wie geht es Ihnen heute?
Ich denke, auf diese Frage gibt es keine sinnvolle kurze und prägnante Antwort. Das Leben mit einem so einschneidenden Verlust ist immer vielschichtig. Sicher ist der Umgang mit der Trauer heute etwas leichter für mich. Der Schmerz hat sich im Laufe der letzten Jahre verändert, ist dumpfer und nicht mehr so allumfassend geworden. Überfallartige Schmerzattacken gibt es aber weiterhin. Sie kommen oft wie aus heiterem Himmel. Auch wenn es inzwischen zur Routine für mich geworden ist, darüber öffentlich zu sprechen, ändert das nichts daran, dass ich immer noch die ganze Palette an Emotionen erlebe, wenn ich am Grab meiner Tochter stehe.
Gibt es trotz allem auch gute Momente?
Mit jedem Jahr, in dem der offensichtliche Schmerz jedoch ein klein bisschen abnimmt und das «Leben mit der Lücke» selbstverständlicher wird, verschaffen sich auch Humor und Fröhlichkeit in meinem Leben wieder lautstärker Gehör. Vielleicht auch deswegen, weil ich mich entschieden habe, das Leben in all seiner Zerbrechlichkeit zu feiern.
Ich bin nicht zu einem Zyniker am Spielfeldrand des Lebens geworden. Der Schmerz bleibt, aber er wertet die Schönheit nicht ab, die ich weiterhin erlebe. Beide dürfen neben einander stehen. Und irgendwo weiter vorne am Horizont wartet ein Wiedersehen auf uns.
Wenn Eltern ihre Kinder verlieren, gehört dies wohl zu den schlimmsten Ereignissen im Leben. Wie beschreiben Sie Ihr Leben vor dem Unfall und das danach?
Ich war wohl beinahe zeit meines Lebens ein leidenschaftlicher Kämpfertyp, der mit 110 Prozent Einsatz durchs Leben geht und bei dem das Glas immer halb voll ist. Bis Mitte vierzig war mein Leben in vielerlei Hinsicht eine Erfolgsstory. Als Musiker, der über viele Jahre gut von seiner Kunst leben konnte und dafür auch viel öffentliche Wertschätzung erfuhr. Als Ehemann und Familienvater von zwei gesunden Kindern.
Dann kam der Unfall. Ein Verlust wie dieser ist nicht nur endgültig, er unterscheidet sich auch von anderen Verlusterfahrungen: So schlimm es ist, einen Lebenstraum, einen Job, eine Beziehung oder einen geliebten Menschen in hohem Alter zu verlieren – der Verlust des eigenen Kindes, noch dazu in so jungen Jahren, hat noch einmal eine andere Urgewalt. Jeder Verlust markiert einen gewaltigen Einschnitt. Aber manchmal findet man nach Wochen oder Monaten im Ausnahmezustand wieder zu einem ‚normalen‘ Leben zurück. In unserem Fall ist das nicht so. Diese Form von Verlust ist unwiederbringlich und nur mit einer Amputation zu vergleichen. Wir gehen fortan mit einer Behinderung durchs Leben.
Man spricht im Trauerprozess von verschiedenen Phasen. Welche haben Sie bei sich selbst erkannt?
Es gibt keine Blaupausen und keine lineare Verlaufsformen für Trauer. Alle Trauernden können Schock, Verleugnung, Isolation, Wut, Schmerz und Schuldgefühlen, Einsamkeit, Reue und Akzeptanz und der schrittweisen Wiederherstellung von Lebensfreude in wiederkehrenden Zyklen begegnen. Aber mit jedem Schritt, den man auf dem Weg der Trauer schon gegangen ist, kann auch das Bewusstsein wachsen, sich verändert zu haben und jetzt ein bisschen besser für das Leben nach dem Verlust gerüstet zu sein als vorher.
Die Trauer zu empfinden, erfasst alle Sinnesorgane: Das, was wir hören, sehen, riechen, schmecken, fühlen, verbindet sich mit Erinnerungen, schönen wie wehmütigen. Über Monate konnte ich nicht mit dem Auto durch unseren Wohnort fahren, ohne jedes Mal in Tränen auszubrechen, wenn ich an Saras Schule vorbeikam. Der Anblick eines leeren Pausenhofes oder einer verwaisten Kinderschaukel sind für mich in dieser Zeit zu Symbolbildern meiner Trauer geworden. Damit zu leben, betrifft nicht nur Erlebnisse mit Sara, die in der Vergangenheit liegen. Wir betrauern auch die Ereignisse, die wir in Zukunft nicht mehr miteinander teilen können. Und auch die Familienkonstellation, die bis in den Herbst 2014 unser Leben wie selbstverständlich geprägt hat, existiert so nicht mehr.
Welche Schritte haben Sie unternommen?
Ich habe Anfang 2015 eine fast zwei Jahre andauernde Traumatherapie begonnen. Worauf ich wohl am wenigsten vorbereitet war: Jeder trauert anders. Durch die Gespräche begann ich zu verstehen, dass es in fast jeder Konstellation von Trauernden einen Flüchter und einen Bewahrer gibt. Also einen, der am liebsten die Flucht nach vorne antreten und ausbrechen möchte. Weil er das Leben, wie es sich jetzt gerade darstellt, so schnell wie möglich hinter sich lassen will. Weil nichts mehr so ist, wie es einmal war.
Und der andere?
Während der andere den völligen Zusammenbruch des vorhandenen Beziehungssystems emotional nicht verwinden könnte. Die Wahrheit ist aber, dass uns schwere Verluste sowieso unser ganzes Leben lang begleiten werden. Das heisst, jeder muss für sich selbst herausfinden, wie viel Trauer er gerade zulassen kann. Denn der eine verarbeitet das Erlebte nach innen, der andere nach aussen. Kann eine Familie einen solchen Verlust überleben? Es gibt so viele Studien, die belegen: Nach dem Tod eines Kindes stirbt oft auch die partnerschaftliche Beziehung. 80% der Ehen in Deutschland scheitern nach dem Verlust eines Kindes.
Und wie war das bei Ihnen?
Während meine Frau eher nach innen verarbeitet hat, habe ich – als Künstler und Mensch, der sein Herz auf der Zunge trägt – die Flucht nach vorne angetreten. Und bin mit unserer Geschichte auch in die Öffentlichkeit gegangen. Weil wir so anders sind, hatte meine Frau aber unbedingtes Veto-Recht. Eine unserer Absprachen war z.B., dass ich unseren Sohn aus der öffentlichen Darstellung seiner Trauer-Verarbeitung herauslasse. Mittlerweile sind Anja und ich 29 Jahre miteinander verheiratet. Gerade diese letzten 7 Jahre haben uns alles abverlangt, und wir sind dankbar, dass unsere Beziehung an dem Verlust nicht zerbrochen ist.
Trauer, Verlust, Tod, das alles gehört zum Leben, aber es fällt uns in der westlichen Welt so schwer, damit umzugehen. Wieso glauben Sie, wollen wir das einfach nicht akzeptieren, dass das zu uns gehört?
Das Leben ist hart. Es gibt Zeiten der Freude und Zeiten für Tränen, Zeiten fürs Feiern und andere fürs Trauern. Und damit wir wirklich lebendig und menschlich sein können, müssen wir beide Realitäten an uns heranlassen. Denn ohne das Durchleben von harten Zeiten und persönlichen Verlusten und ohne die damit verbundene Trauer können wir im Laufe unseres Lebens keine Tiefe gewinnen. Umso wichtiger ist eigentlich, für sich persönlich so lange zu suchen, bis wir eine befriedigende Antwort auf die Frage gefunden haben, was nach unserem Tod passiert. Ich weiss nicht, wie ich den Verlust meiner Tochter verwinden sollte, wenn ich keine ewige Hoffnung im Herzen tragen würde.
Wie lange hat es gedauert, bis Sie danach wieder «im Leben» ankamen?
Frieden gibt es für mich persönlich hier auf dieser Erde wohl noch eine Weile nur «im Auge des Sturms». Der Schmerz war in den ersten Jahren erdrutschartig und buchstäblich allumfassend. Tränen sind in dieser Zeit zu einem festen Begleiter geworden, und auch heute, sieben Jahre danach, spüre ich die Nachbeben noch deutlich. Wenn ich unser Haus, das mit so viel Leben gefüllt war, nicht mit Musik fülle, dann schreit mich oft die Stille an – und verbreitet Vieles, nur keinen Frieden. Auch der Schritt, mit meiner Trauer in die Öffentlichkeit zu gehen, fordert seinen Tribut: Jedes Jahr erreichen mich viele E-Mails und Briefe von Menschen, die sich aus ihrer Isolation und Sprachlosigkeit wagen und nun ihrerseits von ihrem Schmerz erzählen.
Was bedeuten Ihnen diese E-Mails?
Ich glaube, es sind gerade die schmerzvollen Zeiten in unserem Leben, in denen uns bewusst wird, wie ergänzungsbedürftig wir sind. Dass wir Freunde brauchen, die uns die Arme hochhalten, wenn wir dazu keine Kraft mehr haben. Oder die uns einen neuen Blickwinkel eröffnen, wenn wir mit unserem Latein am Ende sind. Die Worte, die unsere Freunde uns sagen konnten, waren gerade am Anfang begrenzt. Taten sprachen lauter als tausend Worte. Aber das Empfinden, dass wir in unserer Not nicht allein sind und viele von ihnen unseren Glauben an ein Wiedersehen mit Sara im Himmel teilen, ist ein unschätzbarer Schatz.
Deswegen hat sich bei uns in all der Zeit immer wieder auch ein überbordendes Gefühl von Dankbarkeit eingestellt: Dass wir von Menschen umsorgt sind, die uns lieben. Die uns in aller Behutsamkeit und ohne platte Durchhalteparolen mit ihrer Liebe überschütten. Sie sind sparsam mit Worten, aber in tiefer Trauer braucht man auch nicht viele Worte, sondern körperliche Berührung und die Möglichkeit, sich in den Armen eines Freundes oder einer Freundin ausweinen zu können, bis die Tränen versiegen.
Sie sagten einmal: «Ich habe mich entschieden, meiner Trauer in die Augen zu sehen und sie nicht zu unterdrücken.» Wie genau haben Sie dies umgesetzt?
Direkt nach dem Unfall habe ich mich gefragt, ob ich je wieder zu künstlerischem Ausdruck finden werde und ob ich noch Lieder in mir trage. Von meinem Naturell und meinen Genen her bin ich durch und durch Kommunikator, Musiker und Songwriter, der das Innere nach aussen kehrt und nach einer kunstvollen, poetischen Sprache sucht, um auch Unsagbares auszudrücken. Zu trauern und gleichzeitig darüber nachzudenken, um meine Erfahrungen als öffentliche Person in Interviews und Konzerten vermitteln zu können, ist ein hoher Anspruch an sich selbst.
Ich versuche seit geraumer Zeit, Lieder zu schreiben, die Brücken zwischen Hoffen und Scheitern, Verlust und Vertrauen bauen. Gott steht für mich dabei über der Zeit, behält die Kontrolle und kennt das grosse Ganze. Ich kann nicht erwarten, dass mein Horizont hergibt, zu verstehen, wie er das macht. Ich kann nicht erwarten, dass ich den Lauf des Lebens verstehe.
Wie meinen Sie das genau?
Saras Tod ist und bleibt für mich grauenhaft und unverständlich. Deswegen wehre ich mich auch gegen jede Instrumentalisierung von Leid, gegen Sätze, die mit «Leid ist dazu da, dass ...» anfangen. Leid ist ein Zeichen einer kaputten und erlösungsbedürftigen Welt. Und stellt uns vor ein riesiges Fragezeichen. Solange wir Menschen aber glauben, lieben und hoffen, wachsen wir auch an unseren Brüchen. Ich bin ein barmherzigerer Mensch geworden seit Saras Tod. Ein noch stärker Menschen zugewandter Typ. Da ist ein kostbarer Draht zu anderen Menschen mit verstörenden Leiderfahrungen entstanden. Meine Lieder und meine Art zu denken und zu leben, haben sich verändert. Und das ist gut, aber es macht für mich trotzdem nicht richtig, was passiert ist. Ich habe mich bewusst verletzlich gemacht, als ich mit diesen Erfahrungen an die Öffentlichkeit gegangen bin. Aber ich konnte Saras Tod auf der Bühne nicht verschweigen. Dadurch kann ich in das Herz von Menschen sprechen, die nicht über ihren Verlust reden können oder wollen, die sich einsam fühlen und denken, dass sie keiner versteht.
Gibt es einen Rat oder Ratschläge, die Sie aus Ihrer Erfahrung anderen Menschen geben können, die einen schweren Schicksalsschlag erleben?
Ich persönlich wäre daran zerbrochen, wenn ich keine Traumatherapie gemacht hätte. Es führt ganz oft kein Weg daran vorbei, sich professionelle Hilfe zu suchen. Frauen sind dazu erfahrungsgemäss oft eher bereit als Männer. Es nicht zu tun, kann fatale Folgen haben.
Jeder schwere Verlust verlangt nach Trauer! Der Verlust eines geliebten Menschen wiegt schwer und darf nicht klein geredet werden. Alles hat seine Zeit. Und jeder muss sein eigenes Tempo in der Verarbeitung finden. Trauer kann man nicht über einen Kamm scheren. Sie dauert so lange, wie sie dauert. Jeder schwere Verlust wird etwas leichter durch eine Haltung der Dankbarkeit! Wir erinnern uns an einen unersetzbaren Menschen, der unser Leben bereichert und mitgeprägt hat.