Home Region Sport Schweiz/Ausland Rubriken Agenda
Gesundheit
10.12.2020
11.12.2020 12:03 Uhr

«Gewalt, Angst und Krisen zu Hause nehmen zu»

Chefärztin Angela Brucher zieht Bilanz für die Psychiatrie-Zentren im Linthgebiet.
Chefärztin Angela Brucher zieht Bilanz für die Psychiatrie-Zentren im Linthgebiet.
Je länger sie dauert, je mehr Spuren hinterlässt die Corona-Pandemie. Auch bei psychisch kranken Menschen, wie die St.Galler Psychiaterie-Chefärztin Angela Brucher bestätigt: «In den Familien kommt es vermehrt zu Streit und Aggression.»

Eine repräsentative Umfrage des BAG zeigt, Ende Oktober gaben 15 Prozent der Bevölkerung an, sich schlecht bis sehr schlecht zu fühlen. Senioren schätzen ihr Wohlbefinden sogar noch schlimmer ein als während des Lockdowns im Frühling. Laut Befragung leiden aber die Jugendlichen am meisten.

Linth24 hat sich bei verschiedenen Institutionen umgehört und startet heute mit einem Interview aus den Psychiatrie-Zentren im Linthgebiet (Standorte in Rapperswil-Jona und Uznach), welches mit der zuständigen Chefärztin St.Gallische Psychiatrie-Dienste Süd, Dr.med.univ. Angela Brucher, geführt wurde.

Linth24: Hat die Anzahl Patienten bei Ihnen seit der Corona-Krise zugenommen?

Dr. Angela Brucher: Im Frühjahr während des Lockdowns behandelten die St.Gallischen Psychiatrie-Dienste Süd weniger Patientinnen und Patienten. Meine Vermutung geht dahin, dass sich die Menschen zu Hause zurückgezogen haben, als die Corona-Pandemie noch neu war. Zudem waren wir zum Beispiel in den Tageskliniken gezwungen, auf Grund der Situation die Gruppen zu verkleinern, was damals eine verringerte Aufnahmekapazität zur Folge hatte. Mittlerweile und mit Fortdauer der Krise haben die Anmeldungen bei allen Angeboten zugenommen und liegen über dem Vorjahresniveau.

Kommen viele Patienten explizit wegen der Corona-Krise zu Ihnen?

Das ist schwer zu beantworten, da die wenigsten Menschen «nur» wegen der Corona-Krise zu uns kommen. Häufig haben unsere Patientinnen und Patienten verschiedene Belastungsfaktoren. Die aktuelle Situation kommt dann noch dazu und bringt das Fass zum Überlaufen.

Wie viele davon haben vor der Corona-Krise nicht unter Ängsten oder Depressionen gelitten?

Grob geschätzt würde ich davon ausgehen, dass 10-20 % unserer Anmeldungen Menschen betreffen, die zuvor nicht in psychiatrischer Behandlung waren.

«Grob geschätzt würde ich davon ausgehen, dass 10-20 % unserer Anmeldungen Menschen betreffen, die zuvor nicht in psychiatrischer Behandlung waren.»
Psychiaterie-Chefärztin Angela Brucher

Welche Veränderungen in Bezug auf Corona beobachten Sie zwischen März 2020 und Dezember 2020?

Die Bevölkerung wird zunehmend müde. Menschen sind erschöpft und desillusioniert. Im März haben die meisten noch gedacht, die Krise wird von kurzer Dauer sein und wir kehren in das Leben von zuvor zurück. Das kann man sich aktuell gar nicht mehr so richtig vorstellen. Nun steht Weihnachten vor der Tür und viele wissen nicht, wie und mit wem sie das Fest feiern dürfen. Existentiell-wirtschaftliche Probleme, Arbeitslosigkeit und allgemein Zukunftssorgen werden jetzt auch akuter erlebt als im März.

Müssen Sie Patienten abweisen, weil Sie überlastet sind?

Nein, wir konnten die psychiatrische Versorgung der Bevölkerung auch in der Krise und im Lockdown immer erfüllen und mussten niemanden abweisen. Vereinzelt haben wir aber Wartezeiten von einigen Wochen in nicht dringlichen Fällen. Bei Notfällen können wir immer rasch Hilfe anbieten.

Welches sind die hauptsächlichen Probleme der Patienten, welche Sie aufsuchen wegen der Corona-Krise?

Die andauernd wirkende Unsicherheit sowie die permanente Bedrohungslage wirken sich belastend auf die Menschen aus. Hinzu kommen wirtschaftliche Sorgen. In den Familien kommt es zu mehr Spannungen, Streit und auch Aggression. Dies wird noch verstärkt, da die Bevölkerung zum zu Hause Bleiben aufgefordert ist und somit die Ausweichmöglichkeiten fehlen. Symptome, die nun vermehrt auftreten, sind Krisen zu Hause, Gewalt, Angst, Depression, Erschöpfung, Burnout und gesteigerter Alkoholkonsum.

«Symptome, die nun vermehrt auftreten, sind Krisen zu Hause, Gewalt, Angst, Depression, Erschöpfung, Burnout und gesteigerter Alkoholkonsum.»
Psychiaterie-Chefärztin Angela Brucher

Studien zeigen, dass vor allem Jugendliche unter der Krise leiden und Hilfe suchen. Ist das bei Ihnen auch so?

Das kann ich so nicht bestätigen, da die Psychiatrie-Dienste Süd erst Menschen ab 18 Jahren behandelt.

Was empfehlen Sie Menschen, die besonders unter der Corona-Krise leiden, zur Stärkung Ihrer Psyche?

Achten Sie auf Ihre Ressourcen, planen Sie zwischendurch genügend Erholungspausen ein. Leben Sie bewusst im Alltag. Man muss nicht täglich Nachrichten konsumieren, man darf und soll sich auch schützen, wenn es zu viel wird. Treffen Sie wichtige Personen Online in Video-Chats wie Skype oder Facetime oder treffen Sie sich im Freien. Pflegen Sie die Beziehungen zu wichtigen Menschen aktiv.

Lesen Sie morgen auf Linth24, wie sich die Corona-Pandemie in der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich auswirkt.

Sibylle Marti, Linth24