Ende Januar 1936 feierten die «reichsdeutschen Volksgenossen» auf Einladung des deutschen Konsuls in St.Gallen im Kongresshaus Schützengarten den «Tag der Machtergreifung» durch die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei, die NSDAP.
Wie St.Galler die Nazi feierten


Die sogenannte «Machtergreifung» vom 30. Januar 1933 war eigentlich eine Machtübertragung, die zur Hitlerdiktatur führte. Die Ernennung des österreichischen Gefreiten Adolf Hitler wurde in Berlin mit einem riesigen Fackelzug durch das Brandenburger Tor gefeiert.
Die Bilder von Kundgebungen, Aufmärschen, Parteitagen, Defilees, Paraden usw. zeigen uns das «glanzvolle Bild» dieser «Konsensdiktatur».

Vor vielen Jahren hatte ich Gelegenheit, an der University of New South Wales in Australien Propagandafilme, vor allem Filme «made during the Third Reich», zu analysieren. Angesichts dieser gewaltigen Nazipropaganda kann ich für mich nicht die Hand ins Feuer legen, dass ich damals in Deutschland, unter jenen Umständen, nicht auch gejubelt und «Heil Hitler» gerufen hätte.
Bei diesen Masseninszenierungen sah man jeweils vor allem den «Führer» Adolf Hitler und seinen Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda Joseph Goebbels mit seiner «Jahrmarktschreierei», genannt das «Reichslügenmaul», sowie den Reichsmarschall und Reichsjägermeister Hermann Göring in seinen prächtigen, mit Orden behangenen Uniformen, den «Lametta-Hermann» (Lametta gleich Orden).
Schmückende Beiwörter wurden auch anderen zuteil, beispielsweise dem Maler Adolf Ziegler, einem nationalsozialistischen Kunstfunktionär (mit dem ich nicht verwandt bin). Wegen seiner realistischen weiblichen Aktbilder wurde er Reichsschamwart, Reichsschamhaarmaler bzw. Maler des deutschen Schamhaars genannt.

Hitler, Goebbels und Göring finden sich in einem Gruppenwitz zusammen; in diesem wird gefragt, wie der ideale Deutsche aussehe: «Blond wie Hitler, gross wie Goebbels, schlank wie Göring ...»
Nun entsprachen aber ausgerechnet diese drei und andere Nazifiguren nicht dem Bild eines «Ariers». Dieser Begriff wurde in der Rassenpolitik des Nationalsozialismus missbraucht, wo von der falschen Annahme einer überlegenen «arischen Rasse» und einer «Herrenrasse» ausgegangen worden war.
Da vor allem Goebbels, dem der Spottname «Schrumpfgermane» angehängt worden war, nicht wie ein deutscher «Arier» aussah, betete man: «Lieber Gott, mach mich blind, dass ich Goebbels arisch find!»

Wenn wir heute in alten Wochenschauen oder im Fernsehen die Auftritte dieser und anderer Nazis sehen, den gestikulierenden Hitler, den dicken Göring, den geifernden Goebbels oder gar den Reichsführer-SS Heinrich Himmler, diesen Teufel in Menschengestalt und «Scharfrichter der Hölle», wirkt die Begeisterung der damaligen Menschen für ihren «Ver-Führer» rätselhaft, und wir verstehen nur schwer, wie diese Gestalten aus einem Volk der Dichter und Denker ein «Volk der Richter und Henker» machen konnten.
Ich habe im Zusammenhang mit dem Studium des Zweiten Weltkriegs auch viele Witzbücher gelesen. Der deutsche Pazifist Ernst Friedrich gab 1934 (gedruckt in der Buchdruckerei Volksstimme in St.Gallen) zwei Hefte heraus mit dem Titel «Man füstert in Deutschland ..., Die besten Witze über das dritte Reich». Im Vorwort des zweiten Hefts steht: «Jeder braune Witz ist ein ZEITDOKUMENT!»
Trotz des ernsten Themas, das in vielen dieser Witze abgehandelt wird, bieten sie ein anderes Bild der Nazibonzen, als wir es aus deren Propaganda kennen. Abgesehen davon, dass das Hitler-Regime zutiefst humorlos war, hatten viele Deutsche während dieser Zeit wahrlich wenig zum Lachen.

Dass ein Buch den Titel «Der Flüsterwitz im Dritten Reich» und auf dem Umschlag ein «pst» trägt, sagt alles: «Müller fragt: ‹Was gibt es für neue Witze?› Worauf Schulz antwortet: ‹Sechs Monate KZ!›» – «Zwei Irrenärzte begegnen einander. Der eine grüsst: Heil Hitler! Darauf der andere: Heil du ihn!»
An einer Anschlagsäule hing ein Plakat mit Werbung für Heilkräuter und -erden. Unter die Schlagzeilen «Heiltee zum Trinken», «Heilerde zum Essen» hatte ein Missvergnügter geschrieben: «Heil Hitler zum Kotzen!»
Der zweifelhafte «Volkssänger» und «Mitläufer» Weiss Ferdl (Ferdinand Weisheitinger) soll, wie er vermutlich im Kabarett erzählte, von Hitler dessen Bild mit eigenhändiger Unterschrift bekommen haben. «Das ist mein Freund, der Hitler», sagte er. «Jetzt weiss ich nur net, soll ich ihn aufhängen oder an die Wand stellen?» Diese «Flüsterwitze» entnahm ich dem oben erwähnten Buch von Hans-Jochen Gamm (1925–2011).
Der Hass gegenüber dem Führer wurde auch «religiös gerechtfertigt»: Im Beichtstuhl fragte jemand, ob es eine Sünde sei, wenn man jemandem von ganzem Herzen den Tod wünsche. Die verständnisvolle Antwort des Priesters lautete: «In diesem besonderen Falle nicht!»
Clemens August Graf von Galen, Bischof von Münster und Kardinal (1878–1946), wandte sich in einer Predigt gegen die Jugenderziehung durch die Hitlerjugend. Da rief jemand dazwischen: «Wie kann ein Mann, der keine Kinder hat, massgeblich über Kindererziehung sprechen wollen!» Darauf Galen: «Ich kann eine solche persönliche Kritik am Führer in meiner Kirche nicht zulassen!»
Im folgenden Witz, der sich direkt gegen Hitler richtete, ist die sarkastische Pointe in eine kleine Geschichte eingepackt:
Hitler und sein Chauffeur fahren übers Land. Auf einmal, bumm, ein Aufprall! Sie haben ein Huhn überfahren. Hitler zum Chauffeur: «Wir müssen es dem Bauern melden. Lassen Sie mich mal machen, ich bin der Führer, er wird es verstehen.» Nach zwei Minuten kommt Hitler angerannt und hält sich den Hintern – der Bauer hat ihn verdroschen. Die beiden fahren weiter. Doch plötzlich, bumm, platsch, wieder ein Aufprall! Sie haben ein Schwein überfahren. Hitler zum Chauffeur: «Diesmal gehen aber Sie zum Bauern!» Der Chauffeur gehorcht dem Befehl, kommt aber erst nach einer Stunde wieder, vollkommen betrunken und mit einem Korb mit Würsten und Geschenken in der Hand. Hitler vollkommen erstaunt: «Ja, mein Gott, was haben Sie dem Bauern denn gesagt?» Darauf der Chauffeur: «Ich habe nur gesagt: ‹Heil Hitler, das Schwein ist tot!› – und da haben sie mir diese Geschenke gegeben!»
Dieser «Flüsterwitz» gab Rudolph Herzogs Buch von 2006 den Titel: «Heil Hitler, das Schwein ist tot! Lachen unter Hitler – Komik und Humor im Dritten Reich» (2006). Dieses sowie die erwähnten und rege benutzten Werke von Ernst Friedrich und Hans-Jochen Gamm gaben mir die Gewissheit, dass Witze wichtige «Zeitdokumente» sind.