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Kultur
06.10.2024
06.10.2024 06:27 Uhr

Ernst S. und Niklaus Meienberg

Stadtammann Heinz Christen überreicht Niklaus Meienberg am 25. November 1990 im Theater St.Gallen den Kulturpreis der Stadt
Stadtammann Heinz Christen überreicht Niklaus Meienberg am 25. November 1990 im Theater St.Gallen den Kulturpreis der Stadt Bild: Stadtarchiv Ortsbürgergemeinde St.Gallen
Am 24. Oktober kommt der «Landesverräter» ins Kino. In diesem Zusammenhang spielt auch der legendäre Journalist Niklaus Meienberg eine Rolle.

Alt Stadtarchivar Ernst Ziegler nimmt die tragische Geschichte des Ernst S. zum Anlass, um die Geschichte des Nationalsozialismus in St.Gallen zu rekapitulieren. Den fünften und letzten Teil widmet er Niklaus Meienberg und seiner Reportage «Ernst S. Landesverräter (1909–1942)».

Wer sich mit dem «Landesverräter» Ernst S. befasst, kommt nicht um Niklaus Meienberg und seine ebenso tendenziös wie brillant geschriebene Reportage «Ernst S. Landesverräter (1909–1942)» herum.

«Wie ein Laborant»

Es mag Ende August 1972 gewesen sein, als ich zum ersten Mal im Treppenhaus der damaligen Stadtbibliothek (Vadiana) in St.Gallen mit dem, wie er schrieb, «frisch und zottig aus Frankreich eingetroffenen» Meienberg zusammentraf.

Angetan mit einem weissen «Berufsmantel», weil damals meine Hauptarbeit im Abstauben alter Folianten bestand, musterte mich das mächtige Mannsbild von oben bis unten und fragte schliesslich, ob ich der Stadtarchivar sei. Da die Bejahung zu seiner Zufriedenheit ausfiel, meinte er, ich sähe ja aus wie ein Laborant.

Er geruhte dann, mit mir zusammen meine Ausstellung «Aus dem Stadtarchiv» in Augenschein zu nehmen. In meinem «Archivtagebuch» ist von einer «interessanten Diskussion» die Rede.

Stehe zu Diensten

Weitere Besuche fanden im Juli 1974 statt. Am späten Nachmittag des 23. Juli stürmte Niklaus Meienberg in mein «Ämtli», wo ich eben der hochwichtigen Betätigung des Urkunden-Ordnens mich hingegeben hatte. Er war auf der Suche nach einer Todesanzeige für seine erwähnte Reportage. Der Buchhändler Peter Fehr (1926–2015), sprudelte er los, habe ihm gesagt, im «Tagblatt» vom 7. Oktober 1941 stehe: «Heini Mettler ist in Russland für den Führer gefallen.» Das müsse er unbedingt haben!

Der Zeitungsband wurde konsultiert, die Todesanzeige unter dem betreffenden Datum gefunden; der Text lautete: «Unser inniggeliebter Hannes Martin Mettler hat am 14. September 1941 bei Kiew den frühen Tod gefunden.» Das könne er, fluchte der «Historiker», gopferdeggel, so nicht brauchen, ohne das «für den Führer»! Als Historiker von Profession war ich natürlich geschockt ob so viel Voreingenommenheit, und es kam zu einem ziemlich heftigen Streit.

Bild: St.Galler Tagblatt

Betreffend diese Todesanzeige schrieb mir im Mai 2018 ein alter Freund: Die Redaktion des «St.Galler Tagblatt» habe damals erfahren, dass die Familie Mettler eine Todesanzeige mit den Textbausteinen «tapfer kämpfend für den Führer» und «in stolzer Trauer» eingerückt habe.

Dagegen habe die Redaktion bei der Annoncen-Abteilung entgegen aller journalistischen Gepflogenheiten, aber erfolgreich interveniert, worauf die Familie einen unverdächtigen Text einreichte, so wie eben ein Elternpaar seine Trauer über den Verlust eines Kindes bekannt gibt.

Ich recherchierte dann im damaligen Archiv der Stadt im alten Rathaus für Meienbergs Anfragen betreffend den Polizeiinspektor Karl Kappeler (1880–1947) usw. für seinen Text über Ernst S. Wir haben uns dann mehrmals getroffen und immer wieder miteinander gestritten.

Seine «Reportagen aus der Schweiz» und seine anderen Bücher las ich mit grossem Interesse; Höhepunkt war für mich der eindrückliche Text «Ernst S. Landesverräter (1919–1942)».

Niklaus Meienberg (geboren 1940 in St.Gallen-St.Fiden, gestorben 1993 in Zürich) während der Verleihung des Kulturpreises Bild: Stadtarchiv Ortsbürgergemeinde St.Gallen

Der Kulturpreis

Nun erhielt der 1940 in St.Gallen geborene Niklaus Meienberg 1990 von der Stadt St.Gallen den Kulturpreis, was dem sogenannten St. Galler Establishment «sauer aufstiess».

Diese Preisverleihung war damals ziemlich umstritten: Vom altgedienten Magistraten über den Redaktor, Rektor, Faktor und Fabrikanten, den Bibliothekar und den Erfinder der Stadtgeschichte bis zum Bürger aus der Stadt reichte die bunte Schar der Gegner dieser Verleihung.

Zusammen mit einem «KAK – Kulturelles Aktions-Komitee St.Gallen» schoss auch die linke «Ostschweizer AZ» pünktlich auf die Preisverleihung hin eine Breitseite gegen den «Schreiberling» Meienberg ab. Warum war jetzt Meienberg das Glück beschieden, von rechts bis links umstritten zu sein und angegriffen zu werden?

Ein Grund war, dass viele Meienberg weder kannten noch je etwas von ihm gelesen hatten, ein anderer, dass man ihn für einen «Nestbeschmutzer» hielt (was immer auch damit gemeint sein mochte), ein dritter, dass er es fertigbrachte, auch in jene Fettnäpfchen zu treten, die ihm nicht im Wege lagen. Und dann war Meienberg kein einfacher Zeitgenosse.

Ich wurde dann vom Stadtrat gebeten, an der Preisverleihung über Niklaus Meienberg als Historiker ein paar Worte zu verlieren. Warum musste ausgerechnet ein Archivar, der Inbegriff von Verstaubtheit, den ein Lokalredaktor eben als «Hoher Priester der Nostalgie» apostrophiert hatte, an dieser Feier auftreten?

Ein Grund mag sein, dass sich an Meienberg dahier kein Politiker – ausser dem sozialdemokratischen Stadtammann gleichsam ex officio – die Finger verbrennen wollte! Trotz des Widerstands der halben Stadt hielt ich dann eine Ansprache. An der Preisverleihung nahm der Stadtrat in corpore teil; der Regierungsrat des Kantons St.Gallen liess sich in corpore entschuldigen.

Ernst Ziegler bei seiner Laudatio für Niklaus Meienberg im November 1990 Bild: Stadtarchiv Ortsbürgergemeinde St.Gallen

Meienberg als Historiker

Nun stellte sich die Frage, was der Meienberg eigentlich war: Historiker, Prophet, Journalist oder was sonst? Ich wollte das nicht selber entscheiden und habe darum meinem ehemaligen Lehrer Edgar Bonjour (1898–1991) geschrieben, dem Verfasser der monumentalen «Geschichte der schweizerischen Neutralität».

Meienberg hat seiner in zwei Aufsätzen gedacht: «Bonsoir Herr Bonjour» und «Bonjour Monsieur». Was er 1971 in «Bonsoir Herr Bonjour» von sich gab, war teilweise starker Tobak. In «Bonjour Monsieur» von 1984 kam ihm dann Bonjour «etwas anders vor als 1971» und 1989 schrieb er: «Man wird halt auch alt und schraubt seine Erwartungen zurück, stärnesiäch und heiterefahne. Anno 1971 mit Wohnsitz in Paris, französisches Mass auf den baslerischen Historiker applizierend und in der selbstverständlichen Hoffnung auf eine neue, umwerfende, unbefangene, mutige, wortgewaltige (wortmächtige) Schweizer Historiker-Generation, ist mir Edgar Bonjour wie die Nachhut eines untergehenden Saeculums vorgekommen. Später, nach längerem Aufenthalt in der CH und vergeblich Ausschau gehalten habend nach dieser neuen, umwerfenden (etc.) Generation von Historikern, mussten wohl Bonjours Qualitäten, die sich vom real existierenden schw. Historiker-Universum des Öftern vorteilhaft abheben, ästimiert werden – zähneknirschend und ein bisschen zerknirscht. Das Neue ist nicht gekommen … und die Geschichtsbücher gehen teilweise hinter Bonjours Erkenntnisse zurück. Ausserdem konnte man erleben, wie Bonjour politischem Druck standhielt. Im Film ‹Die Erschiessung des Landesverräters Ernst S.› hatte er sich dahingehend verlauten lassen, dass bekanntlich immer die Kleinen hängen und die Grossen ungeschoren davonkommen, und ist darauf von einem Bundesrat aufgefordert worden, diese Äusserung zurückzunehmen (im Interesse der Staatsräson). Auf diesen obrigkeitlichen Wunsch ist er nicht eingegangen. Man kann Ihnen den Respekt nicht versagen, Sire!»

Diesen «Monsieur Bonjour» fragte ich also, ob er mir in zwei, drei Sätzen seine «Meinung von N. Meienberg als Historiker» mitteilen könnte (5. Oktober 1990).

Der längst emeritierte Professor der Universität Basel antwortete mir am 9. Oktober in einem zweiseitigen handgeschriebenen Brief unter anderem folgendes: «Niklaus Meienberg ist ein akademisch gebildeter Historiker. Er durchforscht mit Vorliebe geschichtliche Gebiete, die der zünftige Historiker aus was für Gründen auch immer beiseite lässt, die aber zum Gesamtbild der Historie, der ‹histoire totale›, gehören. Sein echtes Mitleid gehört den Schwachen, den im Leben zu kurz gekommenen, den unters Rad geratenen Menschen. Bei seiner Arbeit verachtet er den historischen Kleinkram, den ‹Schutt›, und wendet sich dem Interessanten in der Vergangenheit zu, womit er weite Leserkreise zu fesseln vermag. Er ist ein ausgesprochen descriptives und narratives Talent, verfügt über eine ungewöhnliche Sprachkraft, über einen eigenen Stil, den er mit seiner Ironie und Polemik zu einer unverwechselbaren persönlichen Ausdrucksweise ausgebildet hat.»

Edgar Bonjour (1898 bis 1991) um 1978 Bild: Swisscovery Basel

Der Text steht auf dem hinteren Umschlag von Meienbergs Buch «Weh unser guter Kaspar ist tot» von 1991.

Das Nachspiel

Am 27. November 1990 schrieb mir der Stadtrat der Stadt St.Gallen: «Die öffentliche Feier zur Überreichung des Kulturpreises an Niklaus Meienberg im Stadttheater war in jeder Beziehung ein voller Erfolg. Mit Ihrer trefflichen Ansprache haben Sie einen wesentlichen Beitrag zum Gelingen dieses Anlasses geleistet. Wir sind glücklich darüber und danken Ihnen herzlich für Ihren Mut, sich zu exponieren, wie auch für die geschickte Art, in der Sie die heikle Aufgabe gelöst haben.»

Mein zweifelhaftes Engagement trug mir damals von geistlichen und weltlichen Herren allerdings Kritik ein. Am 13. November beispielsweise hatte einer dem Stadtrat geschrieben, er fühle sich nicht berufen, an der Kulturpreisverleihung teilzunehmen, weil er «weder den jetzigen Preisträger noch sein kulturschöpferisches Œuvre kenne und deshalb weder den Platz im überfüllten Stadttheater noch den Sitz an der wohlbesetzten Mittagstafel den Könnern und Kennern versperren möchte». Für diese feine Ironie hatte ich durchaus Sinn!

Ernst Ziegler, ehem. St.Galler Stadtarchivar