«Heute hinstehen zu können und sagen zu dürfen, dass es die Caritas St.Gallen-Appenzell seit 100 Jahren gibt, macht mich stolz», sagt Philipp Holderegger. Seit zehn Jahren wirkt er als Geschäftsführer. Nebst der Freude hat das Jubiläum für ihn auch einen bitteren Beigeschmack. Denn: Seit 100 Jahren brauche es die Caritas, und die Situation sei nicht besser geworden. Zu sehen, wieviel Leid und Armut gewisse Lebensereignisse wie Flucht, Scheidung, Krankheit, Verlust der Arbeit oder Sucht nach sich ziehen, beschäftigt ihn täglich. Tausenden von Menschen habe das katholische Hilfswerk im Verlauf der hundertjährigen Geschichte Hoffnung geschenkt. «Ohne uns würde es niemanden kümmern, wie es armen Menschen geht – also jenen, die in den Caritas-Märkten einkaufen oder beispielsweise eine Schuldenberatung bei der Caritas in Anspruch nehmen.»
Caritas hat sich immer wieder neu erfunden
Einer, der 25 Jahre für die Caritas St.Gallen-Appenzell tätig war, ist Niklaus Bayer aus St.Gallen. Bis zu seinem Abgang im Jahr 2011 betreute er den Bereich Pfarreianimation, gab Schulungen im ganzen Kanton und baute ein grosses Netzwerk auf. «Bei der Gründung des ersten Caritassekretariats vor 100 Jahren war es der Pfarrer, der sagte, was zu tun ist. Es gab noch keine Sozialämter. Die Kirche gab den Menschen Brot und Leintücher», so Niklaus Bayer. Es sei deshalb die Entwicklung der Caritas – von der einfachen Sekretariatsstelle bis zum heutigen, breit gefächerten Angebot – das ihn am meisten freue.
Diese Entwicklung hatte aber auch Tücken. Allein in den letzten 25 Jahren musste sich das Hilfswerk mehrfach neu erfinden. Bis zur Jahrtausendwende, als man längst zu einer grossen diözesanen Stelle gewachsen ist, war eines der Kernthemen die Flüchtlingshilfe. Doch genau dieser Bereich brach jäh weg, als der Bund das Flüchtlingswesen an die Kantone weiterreichte und der Kanton St.Gallen dies sodann an die Gemeinden delegierte. «Das für Integrationsprogramme vorgesehene Geld steckten die Kommunen lieber in die eigene Kasse, um selbst Angebote aufzubauen, statt mit erfahrenen Institutionen wie der Caritas zu kooperieren», erinnert sich Niklaus Bayer. Dadurch standen der Caritas viel weniger Mittel zur Verfügung.
Caritas St.Gallen-Appenzell engagierte sich dennoch weiterhin im Asylbereich. Und nach 2008 baute man die Angebote trotz fehlender Verträge so weit aus, dass man zunehmend in finanzielle Schieflage geriet. Als Philipp Holderegger vor zehn Jahren zum Geschäftsleiter gewählt wurde, bekam er einen klaren ersten Auftrag: Die Caritas sanieren und redimensionieren. «Ich hatte 54 Mitarbeitende übernommen und als Erstes auf 18 reduziert», so Holderegger. Von Arbeitsagogen über Jobcoaches bis hin zu Deutschlehrpersonen und Servicepersonal – viele waren betroffen.