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27.12.2023
28.12.2023 07:27 Uhr

Der Traum vom Fliegen – Teil 4

Ein Dufeaux-Doppeldecker bei Viry (F)
Ein Dufeaux-Doppeldecker bei Viry (F) Bild: Weltbild-Verlag, Olten
Oliver Ittensohn vom Stadtarchiv St.Gallen hat die Geschichte der Fliegerei aufgearbeitet. Heute: St.Galler Flugpioniere und das Fliegen in der Schweiz.

Im Genf des Jahres 1900 sind zwei Brüder so fasziniert von der Fliegerei, dass sie sich von der Veloreparatur abwenden und beginnen, Fluggeräte zu entwerfen. Henri (1879–1980) und Armand Dufaux (1883–1941) vertreten von Anfang an die Ansicht, dass ein Flug nur dann gelingen kann, wenn das Gerät senkrecht startet und dann waagrecht zu fliegen beginnt.

Analog dem Prinzip des Helikopters bauen sie ein ca. 20 Kilogramm schweres Fluggerät. Durch zwei gegenläufige Rotoren und einen 3.5 PS starken Benzinmotor angetrieben, steigen sie in die Lüfte. Die Feuertaufe für ihre Erfindung stellt sich im Juli 1910: die Brüder schreiben sich für einen Wettbewerb für die erste Überquerung des Genfer Sees in einem Fluggerät ein. Der Preis für den Sieger: 5’000 Franken.

Akribisch bereiten sich die Dufaux vor: sie entwerfen einen extra leistungsfähigen 50-PS-Motor für erhöhte Geschwindigkeit und füllen den Bauch des Fliegers mit Schweineblasen für den Fall einer unplanmässigen Wasserlandung. Am 28. August 1909 frühmorgens um 4.35 Uhr heben sie ab. Schnell geraten sie in Luftwirbel, Armand Dufaux am Steuer kann knapp ausgleichen und einen folgenschweren Absturz in den Genfersee verhindern.

Dann bricht die Windschutzscheibe, heisses Öl und schwarzer Rauch des Motors weht den Brüdern ins Gesicht. Auch der Motor stottert, die Leistung scheint nicht zu reichen. Mit knapper Not überqueren sie kaum zwei Meter über dem Boden die Ziellinie. In 56 Minuten und 5 Sekunden hatten sie die 66 Kilometer über den See bewältigt, ein Rekord: Es war bis dato der längste Flug eines Schweizer Flugzeugs auf Schweizer Boden.

Henri Kunkler im Breitfeld im Pilotensitz seines Rossier-Kunkler-Hochdeckers Bild: Stadtarchiv SG

Kaum weniger begeistert von der Eroberung der Lüfte ist der St.Galler Henri Kunkler (1886–1951). Seit frühester Kindheit ist das Fliegen seine grosse Leidenschaft. Nach dem Militärdienst beginnt er sich autodidaktisch das Fliegen beizubringen, indem er einen Flugsimulator aus Holz und Leinen konstruiert, diesen an seiner Gartenmauer aufhängt und das Navigieren im Wind übt.

Mit Hilfe seines Freundes Rossier baut er im Jahr 1912 sein erstes «richtiges» Flugzeug, den «Rossier-Kunkler» Hochdecker. Er befestigt kurze Tragflächen, ein doppeltes Seitendruder und ein grosses Höhenruder an einen hölzernen Rumpf, angetrieben wird das Fluggerät von einem 50 PS starken Motor. In dieser Konstruktion sitzt der Pilot im offenen Rumpf des Flugzeugs, dahinter gibt es Platz für Passagiere.

Kunklers Frau und sein Hund Foxli sind in der Anfangszeit treue Passagiere. Seine Start- und Landebahn sowie sein Trainingsgelände ist das Breitfeld in Winkeln, St.Gallen. Die ausladende Wiese bietet genügend Platz für Start- und Landemanöver. Von dort wagt er erste Flüge nach Dübendorf und zurück.(1)

Sein grosser Auftritt an der Flugschau auf dem Breitfeld im März 1913 beeindruckt die Zuschauerinnen und Zuschauer. Seine Schauflüge sind so erfolgreich, dass er sich im April 1914 entschliesst, einen Hangar auf dem Breitfeld zu errichten. Zur Einweihung bietet er Passagierflüge über St.Gallen und die nähere Umgebung an.

Leider sollte ihm sein Projekt kein Glück bringen: Die Behörden sind von der Fliegerei nämlich wenig begeistert. Die Verwaltung des eidgenössischen Waffenplatzes Breitfeld verbietet ihm die Nutzung der Wiese als Privatflugplatz.

Bei Ausbruch des 1. Weltkriegs meldet sich Kunkler als Pilot bei der Schweizer Armee, wird aber abgewiesen: Verheiratete waren nicht für die Fliegerei im Korps zugelassen. Enttäuscht wendet er sich von der Schweiz ab und arbeitet als Fluglehrer in Freiburg im Breisgau. Nach dem Krieg kehrt er nach St.Gallen zurück, sein neu gegründetes Luftverkehrsunternehmen scheitert jedoch. Er ist gezwungen als Vertreter zu arbeiten und stirbt im Jahr 1951 in St.Gallen als armer Mann.(2)

Als Flugpionier aber hat er Meilensteine gesetzt und sein Leben für diesen Traum mehr als einmal riskiert: Im Laufe seiner Karriere überlebt er mindestens acht Notlandungen und drei Abstürze.(3)

Walter Mittelholzer als Militärpilot um 1918 Bild: Weltbild-Verlag, Olten

Der wohl populärste Schweizer Flugpionier ist der St.Galler Walter Mittelholzer (1894–1937). Allerdings führt ihn sein Weg indirekt zur Fliegerei. Von Kindsbeinen an fasziniert ihn die Fotografie, sodass er im Jahr 1911 eine Lehre im noch jungen Beruf des Fotografen ergriff. Im Militärdienst meldet er sich als Fotograf bei der Fliegertruppe und macht eine Ausbildung als Armeepilot.

Nach dem Krieg gründet Mittelholzer mit Kollegen eine eigene Fluggesellschaft, die «Ad Astra Aero AG», die bald von der in Genf gegründeten «Ad Astra» Fluglinie übernommen und neu unter «Ad Astra Aero» firmiert. Mittelholzer leitet den Bereich Luftfotografie und erzielt mit seinen Aufnahmen grosse Gewinne für das neu gegründete Unternehmen. Trotz allem ist die «Ad Astra Aero» ständig in Finanznot. Ab 1923 leitet Mittelholzer das Unternehmen, beschafft neue Flugzeuge und eröffnet neue zivile Luftlinien.

1931 übernimmt die Basler Fluggesellschaft «Balair» das angeschlagene Unternehmen. Später sollten sie in der «Swissair» aufgehen. Besonderen Nachruhm wird Mittelholzer vor allem durch seine Pionierflüge in ferne Länder zuteil. Er fliegt in den 1920er-Jahren bis zum Persischen Golf und nach Afrika. Er fotografiert den Mount Kenya und den Kilimanjaro. Am 7. Dezember 1926 fliegt er zwei Afrikaforscher über 14'500 Kilometer und 96 Flugstunden von Zürich nach Kapstadt.

Ebenso legendär wie seine Flüge sind die Abenteuergeschichten, die sich um seine Figur ranken. Dramatisch erzählt er selbst einen Flugzeugabsturz über den Alpen am 29. März 1922. Seine Maschine kracht frontal in die Felswand. Schwer verletzt und blutüberströmt rettet er sich mit letzter Kraft ins Tal und überlebt. Trotzdem sollte seine Kletterleidenschaft sein Ende bedeuten: Am 9. Mai 1937 verunglückt er tödlich beim Bergsteigen in der Steiermark. Hinterlassen hat er elf in zahlreiche Sprachen übersetzte Bücher und ein grosses Konvolut an Bildern und Filmen.(4)

(1) Ittensohn, Oliver und Gersbach, Martina: Gossau und die frühe Fliegerei, S. 53
(2) Ittensohn, Oliver und Gersbach, Martina: Gossau und die frühe Fliegerei, S. 54
(3) Ruoss, 100 Jahre, S. 42
(4) Ruoss, 100 Jahre, S. 111–118.

Lesen Sie morgen im fünften Teil: Der erste und letzte Flughafen in St.Gallen – Das Breitfeld.

Oliver Ittensohn