In einer dringlichen Interpellation – also einer schnell zu beantwortenden Anfrage – an die St.Galler Regierung schreiben die Politiker der Fraktion «Mitte – EVP» das Folgende:
9'000 neue Flüchtlinge in Lampedusa
An einem Arbeitstreffen zur Unterbringung im Asylwesen, das kürzlich stattgefunden hat, wies das Staatssekretariat für Migration SEM mit Blick auf die EU darauf hin, dass sich ein Gewitter zusammenbraue. Alleine auf Lampedusa sollen in der letzten Woche über 9'000 Personen aus verschiedenen afrikanischen Ländern angekommen sein. Gemäss dem UNHCR sind weltweit über 100 Mio. Menschen auf der Flucht. Dies ist ein trauriger Höchstwert.
Sorgen bereitet auch die Migration über die Balkanroute. Mit einer weiteren Zunahme ist auch dort zu rechnen. Diese Route wird vor allem von Personen aus Afghanistan stark genutzt. Oft treffen sich die beiden Routen in Italien. Dieses Land ist daher nach wie vor sehr stark belastet und nimmt noch immer keine Dublin-Fälle zurück. Frankreich und Deutschland schützen zudem vermehrt die Landesgrenzen, so dass die Ausweichroute über die Schweiz ins Spiel kommt.
28'000 Asylgesuche erwartet
Im wahrscheinlichsten Szenario rechnet das SEM dieses Jahr mit rund 28'000 Asylgesuchen. In den nächsten Monaten geht es von monatlich rund 3'000 Asylgesuchen und zusätzlich von rund 2'000 Gesuchen für den Schutzstatus S aus. Im August wurden 3'001 Asylgesuche gestellt. Die wichtigsten Herkunftsländer sind nach wie vor die Türkei (777 Gesuche) und Afghanistan (737 Gesuche). Darüber hinaus kommen wöchentlich rund 500 Personen aus der Ukraine in die Schweiz. Das SEM hatte einst tiefere Prognosen gemacht.
Zu wenige Kapazitäten in der Asylbegutachtung
Problematisch ist gegenwärtig die Bearbeitungskapazität des SEM. Diese liegt aktuell bei 2'200 Gesuchen pro Monat, was viel zu wenig ist, um die Gesuche fristgerecht bearbeiten zu können. Die Neueintritte in die Bundesasylzentren übersteigen die Austritte deutlich. Somit schwinden die Reserven in den Bundesasylzentren BAZ wöchentlich. Die Verfahren dauern länger und die Zahl der hängigen Gesuche steigt weiter. Wenn das SEM seine Aufgabe nicht machen kann, so trifft dies die Kantone und die Gemeinden.
Zum einen steigt die Zahl der Personen, die ohne Asylentscheid auf die Kantone verteilt werden – sprich: ins erweiterte Verfahren. Per 31. Juli 2023 waren 721 Personen im Verfahrensprozess (Status N) alleine im Kanton St.Gallen. Fast 500 davon sind in kantonalen Zentren untergebracht und davon 221 Personen schon länger als sieben Monate. Die Asylgesuche dieser Personen werden vom Bund nicht prioritär behandelt. Dieser fokussiert sich auf die Personen in den Bundeszentren. Laufend kommen somit neue Asylsuchende in die kantonalen Zentren.
Die Gemeinden werden stark belastet
In den Gemeinden des Kantons St.Gallen leben aktuell rund 10'000 Personen aus dem Flüchtlingsbereich. Diese Zahl ist doppelt so hoch wie noch Anfang 2022. Die im Frühling 2022 noch deutlich spürbare Hilfsbereitschaft seitens der Bevölkerung schwindet. Die Akzeptanz für die Aufnahme von zusätzlichen Flüchtlingen schwindet zunehmend. Breite Teile der Bevölkerung machen sich Sorgen um den sozialen Zusammenhalt und die steigenden Ausgaben im Asylwesen.
Afghaninnen können leichter Asyl erhalten
Letzte Woche wurde zudem publik, dass das SEM eine Praxisänderung für Frauen und Mädchen aus Afghanistan entwickelt hat, die per 17. Juli 2023 in Kraft getreten ist. Ihre Grundrechte und fundamentale Menschenrechte hätten sich seit der Machtübernahme der Taliban kontinuierlich verschlechtert und seien massiv eingeschränkt.
Vor diesem Hintergrund können weibliche Asylsuchende aus Afghanistan als Opfer diskriminierender Gesetzgebung und religiös motivierter Verfolgung betrachtet werden. Ihnen ist daher die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Zu bedenken ist in diesem Zusammenhang, dass in zahlreichen weiteren Ländern Grundrechte fundamental beschnitten werden. Befürchtet wird ein Pull-Effekt und zusätzlich steigende Flüchtlingszahlen.
Kein Sozialamt im Kanton St.Gallen hat jedoch eine entsprechende Information erhalten. Schon länger muss die Rechtsberatungsstelle des Kantons St.Gallen, das HEKS, davon gewusst haben. Offenbar soll sogar bereits ein TikTok-Video die Runde machen, welches die Afghaninnen und Afghanen diesbezüglich informiert.
Gemäss Information des SEM werden solche Praxisänderungen allein durch das Staatssekretariat für Migration beschlossen, ohne vorgängige Konsultation.
Wir bitten die Regierung um die Beantwortung folgender Fragen:
1. Durch die fehlenden personellen Ressourcen beim SEM steigt die Zahl der Personen mit hängigen Asylverfahren im Kanton St.Gallen, was Plätze blockiert und zur frühzeitigen Verteilung dieser Personen auf die Gemeinden führt. Was gedenkt die St.Galler Regierung zu unternehmen und ist die St.Galler Regierung – allenfalls im Verbund mit anderen Kantonen – bereit, diesbezüglich beim Bund zu intervenieren?
2. Was unternimmt die St.Galler Regierung zusammen mit den St.Galler Gemeinden, um dem latenten Problem der fehlenden Unterkünfte für Geflüchtete zu begegnen?
3. Ist der St.Galler Regierung bekannt, dass eine weitere Flüchtlingsgruppe bevorzugt behandelt wird? Wenn ja, warum sind die Gemeinden nicht auf diese Handhabung aufmerksam gemacht worden?
4. Ist der Regierung bekannt, ob noch weitere Flüchtende aus bestimmten Ländern einen besonderen Status erhalten? Wie setzt sich die St.Galler Regierung beim Bund für eine kohärente Flüchtlingspolitik ein?»