Der 31-jährige Afghane erzählt über sein Leben in der Schweiz, seine Flucht und was er zurücklassen musste.
Raza Shawkat, was hast Du auf der Flucht erlebt?
Wegen der politisch instabilen Situation bin ich aus Afghanistan geflohen. Mein Fluchtweg führte über den Iran in die Türkei, dann nach Griechenland, Bulgarien und Serbien. Von dort reiste ich in einem Lastwagen weiter nach Italien. Ich verbrachte drei Tage und zwei Nächte im Fahrzeug – mit fünf Flaschen Wasser und ohne zu wissen, wo genau ich ankommen würde.
Ich habe auf der Flucht viel körperliche Gewalt erlebt (Raza zeigt Narben im Gesicht). Erst in Italien, in Frankreich und der Schweiz hörte dies auf. In Italien verbrachte ich zusammen mit anderen Geflüchteten 17 Tage auf einem Bahnhof. Jeden Morgen und jeden Abend kam eine Frau vorbei, sie brachte uns Tee und etwas zu Essen. Dafür war ich ihr natürlich sehr dankbar.
Angekommen in Frankreich, hätte ich drei Monate ohne Unterkunft warten müssen, bis ich einen Asylantrag hätte stellen können. Ein Mann organisierte mir deshalb ein Ticket in die Schweiz. Am 24. Januar 2021 kam ich in Genf an.
Eine lange Reise bis in unser Land. Wie ging es in der Schweiz weiter?
Von Genf kam ich via Neuenburg ins Bundesasylzentrum Zürich und konnte dort meinen Asylantrag stellen. Ich bekam ein Zimmer und Essen. Auch konnte ich mir im Zentrum durch Garten- und Reinigungsarbeit ein Taschengeld verdienen, so dass ich mir bald wieder ein Handy kaufen konnte, um mit meiner Familie Kontakt aufzunehmen. Auf der Flucht wurden mir von Sicherheitsleuten und der Polizei insgesamt zwölf Handys abgenommen, sodass ich ohne Gerät in Frankreich ankam.
Ich habe aber auf der Flucht auch Lustiges erlebt. Als ich in Serbien war, hatte ich noch 400 Dinar zur Verfügung. Ich dachte, das wäre viel Geld, bis ich feststellte, dass ein RedBull 300 Dinar kostete. Ich kaufte für mich und die Anderen mit dem Geld eine grosse Packung Kekse, die wir sofort aufassen. Erst einige Wochen später stellte sich heraus, dass dies eine Packung Hundekekse war, die wir gegessen hatten.
Wie ist für Dich das Leben in der Schweiz?
Ich bin der Schweiz sehr dankbar für die Art und Weise, wie ich bei meiner Ankunft behandelt wurde. Nach meinem Aufenthalt in Zürich kam ich nach Brugg AG und dann ins Integrationszentrum Seeben in Nesslau, wo ich heute arbeite. Den Aufenthalt im Integrationszentrum habe ich sehr positiv erlebt. Dort hatte ich meinen ersten Deutschkurs, wir hatten eine Tagesstruktur und konnten im Hausbetrieb mitarbeiten.
Ausserdem wurde dort mein heutiger Chef auf mich aufmerksam. Ihm bin ich ganz besonders dankbar, denn er besuchte mich später in Mörschwil und ich fragte ihn, ob er mir eine Arbeitsstelle vermitteln könne. Ihm ist besonders gut in Erinnerung gewesen, dass ich damals, als ich selbst noch Bewohner des Zentrums war, immer positiv aufgefallen bin.
Er setzte sich also für mich ein und so konnte ich in Zusammenarbeit mit dem Sozialamt der Gemeinde Mörschwil ein sechsmonatiges Praktikum als Küchenhilfe und interkultureller Vermittler im Integrationszentrum Seeben aufgleisen. Die Zentrumsleitung war mit meiner Arbeit so zufrieden, dass ich im Anschluss eine 100-Prozentige-Anstellung erhielt. So bin ich heute finanziell unabhängig und hoffe auf eine Aufenthaltsbewilligung, die einen Familiennachzug ermöglicht.
Was musstest Du in Afghanistan zurücklassen?
Vor meiner Flucht lebte ich mit meiner Frau und unseren vier Kindern im Süden Afghanistans. Ich habe einen acht Jahre alten Sohn und drei Töchter im Alter zwischen zwei bis sechs Jahren. Ich denke jeden Tag an sie, das ist schwer! In Afghanistan war ich Karatelehrer, in der Trainingshalle hing ein grosses Bild von Andy Hug, einem Karateweltmeister. Erst als ich in der Schweiz ankam, erfuhr ich, dass er Schweizer war.
Mein Karatewissen kann ich hier in der Schweiz in meiner Freizeit weitergeben. Einmal in der Woche trainiere ich andere Karatetrainer in Wattwil. Wenn ich an meine Heimat denke, dann vermisse ich auch das Essen, das meine Mutter so gut gekocht hat. Am liebsten mag ich Bolani, ein mit Kartoffeln gefüllter Teig, der frittiert wird. Auch Kabuli, das Reisgericht mit Rindfleisch, Gemüse und Rosinen, vermisse ich.
Wovon träumst Du?
Eigentlich wollten wir als Familie aus Afghanistan flüchten, doch meine Frau war mit unserem vierten Kind schwanger. Sie war bereits im siebten Monat. So machte ich mich alleine auf den Weg. Ich träume davon, weiterhin finanziell unabhängig zu sein, so dass ich bald meine Familie zu mir in die Schweiz holen kann.
Ich möchte hier ein Zuhause für die ganze Familie aufbauen. Doch das braucht Zeit. Mein Glaube hilft mir, immer wieder Kraft und Trost zu finden. Und auch die Worte meiner Mutter geben mir immer wieder Kraft. Sie sagt zu mir: «Geh langsam, Schritt für Schritt – aber nicht rückwärts.»