Roli Nehmet ist ein Ur-Joner. Hier wurde er 1959 geboren, hier wuchs er auf, hier absolvierte er die Berufslehre bei der Druckerei «Hefti & Meyer». Hier leben seine Eltern noch immer. Auch Roli ist wieder hier – und gönnt sich in der Rapperswiler Altstadt im Café Gioia della Vita (Lebensfreude) ein Mineralwasser. Die Sonne scheint, der Sommer ist endlich da: «Haben wir es nicht schön hier», sagt Roli und blickt auf seine Hunde Zita, Flip und Filou: «Die drei sind wie meine Familie».
Die dunkelsten Stunden auf dem Platzspitz
Roli lacht und strahlt grosse Empathie aus. Dabei hätte er auch Grund, sich zu beklagen. Das Leben brachte ihn mehr als einmal in Schräglage: «Ich war selber schuld», sagt er. Damit meint er, das «Gift», dem er verfallen war: Drogen – in allen Formen. Einige seiner dunkelsten Stunden verbrachte er auf dem Zürcher Platzspitz, dem gefürchteten Drogenpark in den 1980er und 1990er Jahren, der für viele eine Einbahnstrasse ins Verderben war.
Doch Roli riss sich am Riemen: «Mit 50 ist mir der Knopf aufgegangen. Ich habe realisiert, dass ich mein Leben radikal ändern muss.» So liess er alles zurück – und fing im Berner Oberland, in St. Stephan, im Obersimmental zwischen Zweisimmen und Lenk, nochmals neu an – ohne Drogen, ohne die Verlockungen der Grossstadt. Im Sommer arbeitete er auf Bauernhöfen, im Winter an Skiliften – und er kümmerte sich um Hunde: «Sie haben mich gerettet», sagt er und streicht Zita liebevoll übers Fell.
Das Berner Oberland war nicht der richtige Ort
Doch das Berner Oberland war langfristig nicht der richtige Ort für ihn: «Für einen Auswärtigen gibt es dort kaum ein gesellschaftliches Leben. Es ist schwer, Anschluss zu finden.»
Also entschied er sich zur Rückkehr nach Rapperswil-Jona. Roli hat eine Krankenkasse, eine Haftpflichtversicherung – und er erhält 1'140 Franken AHV pro Monat. Und er besitzt über eine Kollegin eine Postadresse. Bei seinen Eltern kann er duschen, doch sonst möchte er sie nicht zu stark behelligen: «Sie sind schon alt – und sollen sich keine Sorgen machen.» Sein Handy lädt er im Café oder im Nelson Pub auf. Was er aber nicht hat: ein Dach über dem Kopf. Also verbringt er die Nächte in einem Holzverschlag hinter den Schrebergärten beim Vita Parcours in Jona – und stösst auf viel Goodwill: «Die Polizisten lassen mich in Ruhe. Für sie ist es okay, wenn ich dort bin. Und von der Bevölkerung spüre ich eine grosse Solidarität». Als bräuchte es dafür einen Beweis, bezahlt ein Gast ungefragt Rolis Getränk – und gibt gleich noch ein italienisches Sprichwort mit auf den Weg: «Wenn ein Stein im Weg steht, musst Du eine Burg bauen.»
Riesensolidarität der Hundebesitzer
Roli ist gerührt und sagt: «Der Mann hat auch zwei Hunde. Das verbindet.» Überhaupt spüre er von den Hundebesitzern eine «Riesensolidarität»: «Sie spenden Futter, laden mich zu einer Pizza ein oder drücken mir auch schon mal ein Nötli in die Hand – auch, wenn ich nie danach fragen würde.»
Nur eine Instanz hat kein Herz für den rührigen Aussenseiter – das Einwohneramt der Stadtverwaltung. Als sich Roli Nehmet offiziell anmelden wollte, wurde ihm klar gemacht, dass er in seiner Heimatgemeinde nicht willkommen ist: «Sie sagten mir, dass ich zurück ins Berner Oberland solle». Roli zieht an einer Zigarette und schüttelt den Kopf: «Das kann doch nicht wahr sein. Alle erhalten Aufnahmerecht. Aber bei mir heisst es, dass ich zuerst einen Vertrag als Untermieter brauche.» Dabei wolle er niemandem zur Last fallen: «Ich möchte Arbeiten, um mir ein Dach über dem Kopf leisten zu können.» Er würde vieles machen: Rasenmähen, Housekeeping, Putzen – sein Traumjob aber sei Dogsitting: «Mit Hunden kenne ich mich sehr gut aus.»
Es tönt nicht nach einem unrealistischen Ziel. Doch solange die Stadt Rapperswil-Jona einem Ortsbürger die kalte Schulter zeigt und ihn lieber heute als morgen ins Berner Oberland verfrachten möchte, stehen die Zeichen für Roli Nehmet schlecht. Und der neutrale Beobachter aus der Halbdistanz fragt sich: Hat die Stadtverwaltung ein Herz aus Eis und Schnee – sogar im Hochsommer?