Wer im Nationalratssaal sitzen darf, ist «öbber». Nach ihm oder ihr werden Gesetze benannt und Strassen oder Gassen getauft. Das «öbber sein» begann früher mit der feierlichen Nomination für die Wahl. Den Weg zu diesem Ehrenplatz der Demokratie nannte man «Ochsentour».
Der Begriff «Ochsentour» ist heute aus der Mode gekommen, aus dem Alltags-Sprachschatz verschwunden. Er findet sich aber immer noch in «Wikipedia». Kurzfassung: «Ochsentour beschreibt im Allgemeinen eine mühevolle, anstrengende Arbeit und gilt im Besonderen als Sinnbild für den beruflichen Aufstieg eines Politikers.»
Früher: Der lange Weg nach Bern
In der Schweiz beginnt diese politische Karriere oft mit der Wahl in eine Schulkommission der Gemeinde. Darauf folgten Geschäftsprüfungskommission der Gemeinde, Gemeinderat, Gemeindepräsident, Kantonsrat. Alternativ waren vergleichbare Karrieren in einer Gewerkschaft, dem Bauernverband oder einer Frauenorganisation möglich. Oft wurden mehrere Wege kombiniert.
Erst nach vielen Jahre der mühseligen und ehrenvoller Kleinarbeit kam allenfalls eine Kandidatur für den Nationalrat in Frage. Wenn Wählerinnen und Wähler damals eine Wahlliste erhielten, waren da die «wägsten und fähigsten» Kandidaten und Kandidatinnen aufgelistet. So war das früher.
Persönlichkeiten als Ausnahmen
Aus der oben beschriebenen Ochsentour gab es immer wieder Ausnahmen. Gottlieb Duttweiler, der Gründer der Migros, nahm nicht diesen Weg auf sich. Er gründete stattdessen eine eigene Partei, den «Landesring der Unabhängigen», und war jahrzehntelang Mitglied des Nationalrats und des Ständerats.
Lilian Uchtenhagen (SP) war zuerst Gemeinderätin in Zürich. Sie wurde als eine der ersten Nationalrätinnen 20 Jahre lang eine prägende Figur in Bern. Das galt auch für Christoph Blocher (SVP) und Ulrich Bremi (FDP), beides anerkannte Unternehmer mit beachtlichem Leistungsausweis.
Sternschnuppen und Kleinholz
Die Zeiten von Duttweiler, Uchtenhagen, Hubacher, Bremi oder Blocher sind vorbei. Dafür tauchen Sternschnuppen auf und wieder ab wie zum Beispiel Roger Köppel. Der Weltwoche-Besitzer und Putin-Bewunderer («Putin steht für Tradition, Familie, Patriotismus, Religion, Männlichkeit») schaffte es dank seiner Präsenz im «SonnTalk» mit dem besten Wahlergebnis in den Nationalrat. Dort war er allerdings selten zu sehen. Als er vor einem Monat bekanntgab, er werde nicht mehr kandidieren, wurde ihm spöttisch nachgerufen, dass ihn niemand in Bern vermissen werde, weil er ja nie da war.
Einen anderen Weg beschreiten die Parteien. Sie stellen heute nicht mehr nur ihre besten Kräfte auf, sondern möglichst viele. Dafür werden diverse Listen kreiert mit maximal vielen Frauen und Männern. Jeder und jede, egal wie bekannt oder nicht, soll auch noch ein paar Stimmen zum Wahlerfolg beitragen. Das Ganze erinnert an einen Wasserrechen. Man stellt diesen in einen Fluss und hofft, dass möglichst viel Kleinholz daran hängen bleibt.
Das Kalkül der Parteien ist klar. Durch Listenverbindungen und Unterlistenverbindungen tragen auch die erfolglosesten und unbekanntesten Personen ein paar Stimmen bei, die dann am Schluss alle der «Mutterpartei» angerechnet werden.
Heute: Multi-Listen statt Leistung
Der Kanton St.Gallen kann zwölf Personen in den Nationalrat delegieren. Total 12, verteilt auf verschiedene Parteien nicht für eine Partei. Aber natürlich darf eine Partei davon träumen, dass sie alle zwölf Sitze abräumt und zwölf Kandidatinnen und Kandidaten aufstellen.
Nun die Realität ist eine andere: Die einzelnen Parteien präsentieren zwischen 24 und 82 Kandidaten. Viele von ihnen haben bisher kein Amt im Dienst der Öffentlichkeit, keinen politischen Leistungsausweis. Aber sie möchten in den Nationalrat.
- Die SP präsentiert eine «Hauptliste» und einer «Nachwuchs-Liste» = 24 Kandidaten
- Die Grünen stellen vier Listen vor: «Hauptliste», «Junge Grüne», «Newcomers», «Evergreen» (sehr lustig für eine grüne Partei) = 48 Kandidaten
- Die FDP hat 5 Listen: «Hauptliste», «Jungfreisinnige» (2 Listen), «Umweltfreisinnige», «Frauenfreisinnige» = 60 Frauen und Männer
- Den demokratischen Vogel schiesst die «Mitte» ab. Als sich die Partei noch christlich nannte, präsentierte sie eine Liste. Jetzt sind es sieben: «Mitte» (2 Listen), «Mitte - Perspektivenliste» (2 Listen), «Junge Mitte» (2 Listen), «Mitte – die Erfahrenen» (1 Liste) = 82 Kandidaten
- Noch nicht geäussert haben sich die Grünliberalen und die SVP.
So wie das die St.Galler Parteien handhaben, wird statt einer Auswahl der «Besten und Wägsten» ein Schaulaufen der eigenen Mitglieder, bestehend aus vielen Anfängern.
Marketing statt echter Leistung: Für eine Demokratie kein gutes Zeichen.