Am Freitag Abend, 7. Oktober, feiert die Kantonalpartei der SVP im "Kreuz" in Jona ihr 30jähriges Jubiläum. Als Gast referiert der Parteipräsident der SVP Schweiz zum Thema «Energieversorgung, Sicherheitspolitik, Neutralitätsverlust – Die Schweiz steht vor grossen Herausforderungen» und weiteren Themen der Politik. Auf Einladung von Linth24 antwortet Marco Chiesa im exklusiven Interview auf aktuelle Fragen.
Exklusivinterview mit Marco Chiesa, Parteipräsident der SVP Schweiz

Herr Chiesa, Finanzminister Ueli Maurer tritt zurück. Sind Sie als Parteichef mehr besorgt oder erfreut über diesen Schritt?
Unser Land verliert einen hervorragenden Bundesrat, einen Politiker aus dem Volk und für das Volk. Er hinterlässt grosse Fussstapfen, aber es gibt keinen Mangel an geeigneten Persönlichkeiten in der SVP. Worauf ich mich freue, das sind die künftigen Begegnungen mit dem einfachen Bürger, dem Menschen Ueli.

Verraten Sie uns etwas über Ihre Strategie bei der Wahl von Maurers Nachfolger im Bundesrat: Werden Sie mit mehreren Kandidaten ins Rennen steigen?
Ich denke, die Fraktion wird beschliessen, mehr als eine Kandidatur für die Bundesversammlung aufzustellen. Nun gilt es das Ergebnis der Arbeit der Kantone und der Findungskommission abzuwarten.
Mit der St. Gallerin Esther Friedli steht möglicherweis eine Kandidatin zur Verfügung, die durchaus Chancen hat, gewählt zu werden. Wie wichtig ist die Frauenfrage für die SVP?
Was zählt, sind Führungsqualitäten, Kompetenz und Motivation. In diesem Sinne wäre Esther Friedli eine hervorragende mögliche Bundesrats-Kandidatin.
Wie sieht Ihre Bilanz der Ära Mauer aus?
Das einhellige Lob aus allen Parteien zeugt von der hervorragenden Arbeit, die Ueli Maurer als Bundesrat geleistet und wie positiv er die Schweizer Politik geprägt hat. Nur auf seine Tätigkeit im Bundesrat zurückzublicken, greift allerdings zu kurz: Ueli Maurer hat die Schweiz auch als Parlamentarier und als Präsident der SVP, der wählerstärksten Partei der Schweiz entscheidend mitgeprägt.

Die SVP interpretiert ihre Rolle als eine Art Zwitter: Sie ist zugleich Regierungs- und Oppositionspartei. Geht diese Rechnung wirklich auf?
Der Bundesrat ist verfassungsrechtlich verpflichtet, die Kollegialität zu wahren. Die Parteien vertreten und verteidigen Werte. Die SVP kann niemals Entscheidungen der Exekutive unterstützen, die die Unabhängigkeit unseres Landes oder – wie aktuell der Fall – die sichere Energie- und Stromversorgung gefährden. Konkordanz bedeutet nicht, dass man als Partei die eigenen Werte und Prinzipien aufgibt. Zum Glück, denn ohne den Widerstand der SVP wäre die Schweiz bereits Teil der EU und die Menschen in unserem Land hätten ein CO2-Gesetz, das nichts bringt ausser noch mehr Verboten und höheren Steuern und Abgaben.
Sie werden das Referendum gegen das neue Klimagesetz (indirekter Gegenvorschlag zur Gletscherinitiative) ergreifen. Was stört Sie daran?
Die Gletscher-Initiative und der Gegenvorschlag verlangen die Erreichung des Netto-Null-Ziels bis 2050. Das bedeutet faktisch den Ausstieg aus den fossilen Energieträgern per Gesetz. Im Klartext heisst das: Heizöl, Benzin, Diesel und Gas werden verboten. Heizen und Autofahren sind nur noch elektrisch möglich. Das ist völlig unrealistisch. 59,3% des heutigen Energieverbrauchs stammen aus fossilen Energieträgern. Jedes Benzinauto weniger, jede Öl-Heizung weniger, bedeutet mehr Stromverbrauch. Dabei haben wir jetzt schon explodierende Preise und Strom-Engpässe! Dieser ideologische links-grüne Blindflug bedeutet das Ende des Industriestandorts Schweiz und damit einen massiven Wohlstandsverlust für die ganze Bevölkerung.
Was muss die Schweiz aus Ihrer Sicht tun, um die Energie- und Stromkrise zu meistern?
Jetzt ist alles zu tun, um die einheimische Stromproduktion auszubauen – ohne Technologieverbote und ideologische Verhinderungspolitik. Wir müssen zum gesunden Schweizer Pragmatismus zurückkehren. Das heisst: nicht nur auf erneuerbare Energien setzen, sondern vor allem auf Energiequellen, die uns mit genügend sicherem, kostengünstigem und unabhängigem Strom versorgen.
In einem Jahr finden die nächsten eidgenössischen Wahlen statt. Mit welchen weiteren Themen werden Sie in den Wahlkampf steigen?
Die Versorgungssicherheit unseres Landes ist ein zentrales Anliegen – sei es bei Strom und Energie oder bei den Lebensmitteln. Wichtig sind uns aber auch Themen wie Sicherheit, die Rückkehr zur integralen Neutralität und die Begrenzung der nach wie vor masslosen Zuwanderung, deren verheerende Folgen die ich als Tessiner nur zu gut kenne.

Um das Thema «Migration und Asyl» ist es eher ruhig geworden in letzter Zeit. Dabei erwartet der Bund bis Ende Jahr die Rekordzahl von 120 000 Flüchtlingen. Hat die SVP dieses Kernthema ihrer Politik verschlafen?
Es ist gut, dass Sie diese Zahlen ansprechen. Sie sind sogar noch höher, als Sie sagen. Die Schweizer Politik hat geschlafen, nicht die SVP. Wir haben erst vor zwei Jahren gewarnt, dass wir bald in einer 10-Millionen-Schweiz leben, wenn die masslose Zuwanderung so weiter geht. Und heute sind wir schon fast bei neun Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern. Allein für 2022 geht der Bund von 240'000 Personen aus, die zusätzlich in unser kleines Land kommen. Die masslose Zuwanderung führt zu immer mehr Problemen: Stau auf den Strassen; zu viele fremdsprachige Kinder gefährden das Bildungsniveau in den Schulen; Asylmigranten kosten Milliarden; die Landschaft wird zubetoniert. Die Schweiz verliert ihre Identität.
Der Anteil der Schweizer an der Wohnbevölkerung sinkt. Zugespitzt könnte man formulieren: Wir haben lieber Katzen und Hunde als Kinder. Kann das auf lange Sicht gutgehen?
Die masslose und unkontrollierte Zuwanderung kann sicher nicht die Antwort sein. Wir von der SVP setzen uns ein für eine eigenständige Steuerung der Zuwanderung. Das heisst, ähnlich wie dies andere Länder wie Kanada oder Australien tun, dass die Schweiz selber bestimmt, welche Zuwanderung sie will. Wir können nicht die ganze Welt aufnehmen. Dazu braucht es auch dringend neue Asyl-Regeln. Es kann nicht sein, dass jeder Asylmigrant einfach hier bleiben und auf Kosten der Allgemeinheit leben kann.

Als Parteipräsident kommen Sie viel in der Schweiz herum und spüren den Puls der Bevölkerung. Wie nehmen Sie die Stimmung im Land wahr?
Es gibt einen grossen Mentalitäts-Unterschied der Stadt- und der Landbevölkerung. Auf dem Land begegne ich einem starken Sinn für Eigenverantwortung und dem Bewusstsein, dass man für sein Geld hart arbeiten muss. In den links-grün regierten Städten hingegen ist der Sinn dafür weitgehend auf der Strecke geblieben. Hier hat sich eine Verbotskultur und Intoleranz gegenüber Andersdenkenden breit gemacht, die mir Sorge bereitet. Auch geht es in erster Linie um Umverteilung und darum, die eigene Klientel mit Privilegien zu bedienen. Ich hoffe, dass dieser Graben, den Links-Grün seit Jahren gräbt, nicht noch tiefer wird. Wir brauchen eine Gesellschaft, die zusammenhält und die die Meinungen und Bedürfnisse des Andern respektiert.
Sie kommen aus dem Kanton Tessin. Gibt es in der Südschweiz spezifische Probleme und Herausforderungen, die wir ernster nehmen sollten?
Die Personenfreizügigkeit mit der EU ist wie Wasser. Wenn man sie verwaltet, bringt sie Wohlstand, wenn man sie unkontrolliert fliessen lässt, schwillt sie zu einer verheerenden Flut an. Das ist die Situation im Tessin. Die Zahl der Grenzgänger ist von 35.000 auf 80.000 gestiegen – auf Kosten unseres Mittelstandes. Weil es Tausende von Leuten gibt, die bereit sind, zu einem niedrigeren Lohn zu arbeiten, findet man nur schwer eine Stelle. Und während die Tessinerinnen und Tessiner an Kaufkraft verlieren, haben die Grenzgänger dank des Wechselkurses mehr im Portemonnaie. Die Situation ist nicht mehr tragbar.
Unser Eindruck ist, dass die SVP in Bern oft isoliert dasteht. Mitte-Links triumphiert. Weshalb gelingt es Ihnen nicht besser, bürgerliche Allianzen zu schmieden?
Bei der kürzlich vom Stimmvolk angenommenen dringend nötigen AHV-Reform war eine solche Allianz möglich. Vielleicht sollten Sie das die anderen Parteien fragen – die SVP steht für eine klar bürgerliche Politik.
Wir erleben gerade eine Erosion von Schweizer Werten, die in Granit gemeisselt schienen. So fordern Politiker von Links bis zur FDP die Aufweichung der Neutralität. Was halten Sie dagegen?
Die Schweizer Neutralität ist ein nicht verhandelbarer Wert. Wir müssen Teil der Lösung und nicht vom Konflikt sein. Das heisst: Die Schweiz mischt sich nicht in fremde Händel ein, sondern sie leistet mit ihren Guten Diensten einen Beitrag zum Frieden. Die Volksinitiative von Christoph Blocher fordert eine Rückkehr zu dieser Neutralität, was ich sehr begrüsse. Aktive Neutralität à la Calmy Rey oder kooperative Neutralität à la Cassis sind im besten Fall unbrauchbare, schwammige Begriffe und im schlechtesten Fall eine Politik, die die Sicherheit Unseres Landes gefährden.

Trotz gescheitertem Rahmenabkommen arbeitet der Bundesrat im Hintergrund an einer weiteren Annäherung an die EU. Was kommt da auf uns zu?
Die SVP lehnt jede institutionelle Anbindung an die EU ab. Die direkte Demokratie ist nicht käuflich. Wir wollen gute Wirtschafts- und Handelsbeziehungen mit unseren Nachbarn, aber das letzte Wort muss immer beim Schweizer Bürger bleiben und nicht bei Brüssel oder dem Europäischen Gerichtshof.
Wenn Sie drei Wünsche freihätten, wie die Schweiz Ihrer Kinder und Grosskinder aussieht – welche wären das?
Ich brauche nur einen: Sie sollen ein sicheres Leben in Freiheit haben.
Sprechen wir zum Schluss noch über Ihre persönliche Zukunft: Wie lange wollen Sie noch Parteipräsident bleiben?
Ich bin noch jung (lächelt).
Herr Chiesa, im Namen unserer Leser und der Redaktion Linth24, bedanken wir uns für Ihre Wertschätzung und die uns gewidmete Zeit.